Kunststoff Erfinder

John Wesley Hyatt (1837 – 1920)

Von explodierenden Billardkugeln zu künstlichen Gebissen

John Wesley Hyatt stand nicht an die Wiege geschrieben, dass er einmal ein wichtiger Kunststoff-Pionier werden würde.

Er wurde 1837 in Starkey, New York, als Sohn eines Schmieds geboren. Allerdings zeigte er sich schon als Kind als sehr begabt und ging mit sechzehn Jahren bei einem Drucker in die Lehre.

Soweit ein Leben wie viele andere. Bis Hyatt eines Tages von einem Preisausschreiben hörte: Eine Firma namens Phelan & Collender lockte mit einer Prämie von 10.000 Dollar – für eine Erfindung, die kostbares Elfenbein als „Werkstoff“ für Billardkugeln überflüssig machen würde.

Hyatt machte sich an die Arbeit. Bald gelang es ihm, aus gepressten Stoffresten zumindest etwas Ähnliches zu erschaffen; dazu musste er seine neuen Kugeln allerdings mit Schellack und Elfenbeinstaub überziehen. So sahen sie ganz ordentlich aus – sie wollten nur noch nicht recht „klicken“. Trotzdem bekam er 1865 ein Patent dafür.

Zwei Jahre später besserte er nach und beschichtete seine Kugeln immerhin schon mit Kollodium. Vielleicht hat er hier mit dem „Klick“ etwas übertrieben: Wenn sie zusammenstießen, gab es leichte Explosionen. Mit unerwarteten Folgen: Der Besitzer eines Saloons aus Colorado schreibt an Hyatt: „Mir macht es nichts aus, aber jedes Mal, wenn die Kugeln zusammenstoßen, ziehen alle Männer im Raum den Revolver.“

Der erste Thermoplast!

Dose

Eine Dose mit Abbildung des Geländes der 1990er Weltausstellung – aus Cellulosenitrat, einem damals immer noch ultramodernen Werkstoff.

Aber Hyatt gab nicht auf und ließ sich auch von rauchenden Colts nicht aus der Ruhe bringen. Er experimentierte weiter mit praktisch allem, was er in die Finger bekam. Und wurde so 1868 zum stolzen Vater des Celluloids – dem ersten Thermoplasten überhaupt! 

Letztlich ist Celluloid nichts anderes als eine Mischung aus Zellulosenitrat und Kampfer. Wobei Zellulosenitrat wiederum aus Baumwolle entsteht, die man mit Säure behandelt – Hyatt ist seinen Stoffresten also auf seine Art treu geblieben.

Aus Celluloid kann man eine Menge machen: Platten, Röhren, Stäbe, Spulen, sogar Fäden. Dazu erhitzt man die flüssige Celluloid-Masse und füllt sie unter Druck in eine Form. Wenn sie abkühlt, behält sie die Gestalt, die die Form ihr verliehen hat. Der besondere Clou ist aber: Wer mag, kann das Produkt wieder erhitzen; dann wird das Celluloid wieder weich. So kann man die Masse erneut gießen – zum Beispiel in eine andere Form.

Luxus für alle!

Puderdose

Celluloid konnte man wie Schildpatt, Ebenholz oder Horn aussehen lassen. Hier eine Dose aus dem Jahr 1920.

Aber Hyatt wäre nicht der Tüftler, der er war, wenn er seinem neuen Werkstoff nicht auch passende Maschinen zur Verarbeitung an die Seite gestellt hätte. Zum Beispiel die erste Spritzgussmaschine, die das Celluloid automatisch in die Form drückt. Und sogar erste Blasform-Anlagen, in denen Hohlkörper aus heißem Kunststoff aufgeblasen werden. 

Dabei kann man den neuen Werkstoff durchaus auch von Hand verarbeiten: Celluloid lässt sich gießen, schneiden, biegen, stempeln und in Scheiben zertrennen. Und es sieht schick aus: nicht nur wie Elfenbein (das war ja der Grund für die Entwicklung), sondern auf Wunsch auch wie Ebenholz, Horn, Schildpatt, Perlmutt, Koralle. Sogar leuchtende Farben waren möglich! Kein Wunder, dass vor allem die Hersteller von Luxusgütern zuschlugen, die ihre Produkte bislang aus Naturstoffen herstellen mussten und nun begannen, mit Imitaten aus Celluloid in die Massenproduktion zu gehen. Luxus für alle!

Heute nur noch für Sammler von Bedeutung

Drehbleistifte

Aus Cellulosenitrat konnte man endlich sogar farbige Produkte herstellen. Zum Beispiel schicke Drehbleistifte, hier ein Ensemble aus dem Jahr 1930, in dem der Verbrauch dieses Werkstoffs seinen Höhepunkt erreichte.

So liest sich auch die Liste der ersten Produkte aus Celluloid wie ein Gang durch das bunte Leben im 19. Jahrhundert: Gaumenplatten von Gebissen, Puppen, Kämme, Schmuck, Dosen, Schalen, Messergriffe und Brillengestelle, Füllhalter, Hemdkragen und Manschetten. 

Und die Produkte stießen auf reges Interesse! Sie waren eben nicht nur schick und nützlich, sondern auch leicht zu pflegen. In einem Werbeslogan aus der Zeit heißt es: „Kein Waschen nötig ... nur ein paar Mal mit einem feuchten Tuch drüber wischen und schon sind Kragen und Manschetten so gut wie neu.“ 

Später kamen zum Beispiel Kämme, Zahnbürsten und sogar Tischtennisbälle hinzu. Zu dieser weiten Verbreitung mag übrigens auch beigetragen haben, dass Hyatt durch Patentstreitigkeiten den Patentschutz verlor. So wurde die Marke frei – und jeder konnte seine Idee verwenden.

Nach Hyatts Tod 1920 ging die Story natürlich weiter. Alleine mit Foto- und Filmmaterial aus Celluloid machten findige Geschäftsleute um 1900 einen Jahresumsatz von ca. 80 Millionen Pfund. 1930 hatte der Kunststoff allerdings seinen Höhepunkt erreicht: Um diese Zeit herum wurden immerhin 50.000 Tonnen Celluloid pro Jahr verkauft. Heute interessiert der Thermoplast-Urahn praktisch niemanden mehr. Längst ist PVC an seine Stelle getreten. Obwohl es Leute gibt, die Hyatts Kunststoff bis heute nachtrauern: Kein anderer Kunststoff macht durch derart brillante Farbeffekte auf sich aufmerksam.