Vom Schellack zu den Phenoplasten
Der Beginn der Neuzeit der Kunststoffe
Die Vor- und Frühgeschichte der organischen Werkstoffe, für die Richard Escales um 1910 das Wort Kunststoffe prägte, behandelt neben einigen natürlichen Harzen pflanzlichen und tierischen Ursprungs vor allem chemisch modifizierte hochmolekulare Naturstoffe wie Kautschuk, Cellulose und wenige Proteine. Erst mit dem Beginn der Neuzeit der Kunststoffe um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert erlangten synthetisch aus sog. Monomeren durch deren chemische Verknüpfung gewonnene Polymere technische Bedeutung.
Am Anfang dieser Entwicklung stehen zweifellos die aus Phenol und Formaldehyd erhaltenen Phenolharze, für die später die Bezeichnung Phenoplaste gebräuchlich wurde. Als deren wichtigsten Vorgänger kann man den Schellack ansehen. Er wird aus Ausscheidungen der Lackschildlaus vor allem in Indien und Thailand gewonnen und fand zunächst als Siegellack, für Firnisse, Polituren, als Leim-Ersatz und als Bindemittel für Schleifsteine Verwendung, seit 1888 aber vor allem als neues Material für Schallplatten („Schellackplatte“). Noch heute werden jährlich einige Tausend Tonnen Schellack in Polituren zum Restaurieren von antiken Möbeln, für Lacke im Musikinstrumentenbau, als Kitte und als gesundheitlich unbedenkliches Überzugsmittel für Dragees, Nahrungsergänzungsmittel und im Lebensmittelbereich eingesetzt.
Der wachsende Bedarf an Schellack und dessen steigender Preis führten im späten neunzehnten Jahrhundert zur Suche nach Ersatzstoffen. Dafür boten sich die bei der Einwirkung von Formaldehyd auf Phenol entstehenden Harze an, deren Bildung Adolf von Baeyer schon 1872 beobachtet hatte, ohne sich jedoch weiter dafür zu interessieren. In der Folgezeit untersuchten mehrere Forscher, z. B. Edmund ter Meer (1874) und W. Kleeberg (1891), diese Reaktion, erkannten aber nicht deren praktische Bedeutung. Erst das 1902 der Firma Louis Blumer in Zwickau/Sa. erteilte Patent für ein von Carl Heinrich Meyer erfundenes „Verfahren zur Herstellung eines dem Schellack ähnlichen harzartigen Kondensationsproduktes aus Phenol und Formaldehydlösung” beschreibt ein bald auch technisch eingesetztes Kunstharz. Das als „Laccain” vor allem für die Herstellung von Möbelpolituren auf den Markt gebrachte Produkt hatte jedoch nur kurze Zeit erfolg, da es nach Carbol roch, nicht lichtbeständig war und nachdunkelte.
Seit etwa 1905 beschäftigten sich Fritz Raschig in Ludwigshafen/Rh. und Leo Hendrik Baekeland in Yonkers bei New York mit der Kondensation von Phenol und Formaldehyd. Raschig erhielt honiggelbe, durchsichtige und gießbare sog. Edelkunstharze, die als Bernsteinersatz, durch Zugabe von Füllstoffen aber auch zum Herstellen von Billardkugeln mit der gleichen Dichte wie Elfenbein geeignet waren. Baekelands bis heute bleibendes Verdienst ist es, aus Phenol und Formaldehyd durch systematische Untersuchungen der Reaktionsbedingungen und der Verfahren zum Härten der Harze mittels Hitze und Druck den ersten wirtschaftlich verwertbaren, vollsynthetischen, unlöslichen und unschmelzbaren Kunststoff (Bakelit) entwickelt zu haben, so dass sein Name sicher mit Recht den Beginn der Neuzeit der Kunststoffgeschichte markiert.
© Prof. Dr. Dr. h. c. Dietrich Braun 2007